Schlatter, Adolf - 17. Jesus und wir heutigen Menschen

Wir in der Christenheit richten den Blick unverwandt auf Jesus und bitten jeden, der sich besinnt, wie er sein Leben einrichten soll: sieh auf Jesus; er führt dich zum Ziel. Nun anworten uns aber viele: was sollen uns die alten Geschichten helfen, die ihr von Jesus erzählt? Warum heißt ihr, lautet unsere Gegenfrage, Jesus alt? Es ist doch offenkundig, sagen sie, daß sich seine Geschichte in einer weit von uns entfernten Vergangenheit zugetragen hat. Im ersten Jahrhundert hat er gelebt, und seine Heimat ist Palästina gewesen. Er steht also der Zeit und dem Räume nach weit hinter uns. Wir können aber unser Leben nicht auf das gründen, was vergangen ist. Wir, die wir jetzt beisammen leben, bereiten uns entweder die gegenseitige Hilfe oder die gemeinsame Not. Was uns mit gegenwärtiger Wirksamkeit berührt, das ist das, was uns schwächt und bindet oder stärkt und befreit. Darum kann uns nur das, was jetzt besteht und geschieht, die Ziele zeigen, nach denen wir zu greifen haben, und die starken Mittel gewähren, die uns aufwärts tragen.

Das wäre eine vernünftige Rede, wenn unser Leben nur auf das gegründet wäre, was uns die Natur darreicht. Es ist genug, daß das Licht und die Wärme uns heute zuströmen und daß jetzt eine Ernte auf unserem Acker reift. Wir sind aber nicht nur das Werk der Natur, sondern besitzen ein inwendiges Leben, und dieses besteht nicht aus voneinander gesonderten Augenblicken. Unser inwendiges Leben hat seine Wurzeln in dem, was vor uns und für uns geschah, und aus dem, was geschehen ist, entsteht auch unsere Zukunft. Wollten wir nur für den Augenblick leben, so gäben wir unserem geistigen Leben den Tod. Wir sind nichts mehr, wenn die Erinnerungen in uns erlöschen, die das in uns aufbewahren, was geschah, und wenn die Hoffnung versinkt, die unseren Blick zu dem wendet, was kommen wird.

Was sind aber in unserem geistigen Besitz die wichtigen, wirksamen Erinnerungen? Zweifellos die, die unseren Blick zu Gott hinwenden. Mit ihnen ist nichts anderes zu vergleichen, was geschehen ist. Das gibt dem Bericht über Jesus, den wir alt und verblichen heißen, die unvergängliche Macht und immer neue Gegenwärtigkeit. Ihn können wir nicht hören, ohne an Gott erinnert zu werden; denn er sprach von nichts anderem als von Gott; und ebensowenig können wir uns deutlich machen, wie er durch das Leben ging, ohne vor Gott gestellt zu sein. Denn er hatte nur ein einziges Verlangen, Gottes Willen zu tun. Kommt Gott uns nahe, dann wird die Frage, wann und wo Jesus gelebt habe, nebensächlich. Gott steht über aller Zeit. Sein Werk veraltet nicht, sein Wille ist gestern und heute derselbe. Das, was ihn uns offenbar macht, spricht zu uns in nie erblassender Gegenwärtigkeit. Keiner von uns, der nach Gott fragt und sich besinnt, welches sein Platz vor Gott sei und wie sein Leben in Gott den Grund finde, kann an Jesus vorübergehen.

Ist aber die Frage nach Gott nicht die allerpersönlichste Frage? Um mich handelt es sich dabei, um meinen Willen, daß er mit Gottes Willen einträchtig werde, um mein Leben, daß ich die Segnungen der göttlichen Gnade empfange. Was können mir hierbei andere helfen? Was soll das bedeuten, was einst in Bethlehem und auf Golgatha geschehen ist? Muß nicht mein eigenstes und innerstes Leben der Ort sein, an dem mich Gottes Gnade besucht und sein Wirken mich erfaßt? Ganz richtig; wenn Gott nicht für mich selbst und in mir selbst offenbar wird, ist er nicht für mich vorhanden. Dann bin ich von ihm getrennt. Aber wie könnte ich auf den Gedanken kommen, Gott nur in meinem eigenen Leben zu suchen? Er ist aller Gott, und darum der meine. Mir ist er gegenwärtig, weil er der ist, der da war und der da ist und der da kommt. Ich kann nicht Frömmigkeit mit Eigensucht zusammenbinden, ohne daß meine Frömmigkeit verdirbt und die Wahrheit verliert. Wenn die ganze Welt für mich gottlos bliebe und nur in mir seine Wahrheit leuchtete und sich seine Gnade nur in mir offenbarte, so wäre mein Gott ein Götze und meine Frömmigkeit Sünde. Gerade dadurch bezeugt uns Jesus Gott, daß er ihn vor allem und über allen offenbart.

Noch einmal tritt uns ein Bedenken entgegen. -Gewiß, Religion ist niemals nur meine eigene Sache, niemals „Privatsache„, sondern die Angelegenheit aller, das zentrale Bedürfnis und der alle umfassende Besitz der ganzen Menschheit. Aber eben deshalb kann ich sie nicht in Vergangenem suchen. Sie muß sich als die Kraft beweisen, die die Menschheit jetzt einigt und ihr jetzt den Anteil an den göttlichen Gaben darreicht. Gehe zur Kirche, lautet nun die Anleitung, die dem Fragenden gegeben wird. Ihr Lehrstand gibt dir für deine Gedanken und dein Handeln die Leitung, und ihr Sakrament verleiht dir die göttlichen Gna'dengaben. Wir könnten in der Tat nicht von Jesus reden, wenn es keine Christenheit gäbe. Sie ist sein Werk, das von ihm zeugt, ihm dient und sein gnädiges, wirksames Wort in die Menschheit trägt. Indem wir ihn kennen und den Anschluß an ihn finden, werden wir Glieder der Kirche und gehören zur Christenheit. Allein die Kirche ist Jesu Werk und Eigentum, sagt sein Wort, ist ihm Untertan und tut seinen Willen. Sie hat ihr Eigentum nicht selbst erworben, sondern von ihm empfangen, und hat sich nicht selbst mit Gott versöhnt, sondern ist durch Jesus mit Gott versöhnt und durch Jesus in den Gehorsam Gottes gebracht. Darum kann uns die Kirche nie an die Stelle Jesu treten, und das, was sie unter uns gegenwärtig ist und tut, kann nicht das verdunkeln, was ihr Schöpfer und Herr in sich selber ist und selbst für sie vollbracht hat. Wem es daran liegt, zur Christenheit zu gehören und Glied der Kirche zu sein, der kann Jesus nicht umgehen, sondern muß sich darum bemühen, daß er ihn höre und kennenlerne und in die Gemeinschaft mit ihm aufgenommen sei.

Rückwärts wandern zu dem, was längst vergangen ist, kann man dies? Wird damit nicht etwas Unmögliches versucht? Ganz vollständige, ganz richtige Erinnerungen gibt es nicht. Was sich in unserem Bewußtsein als Bild der Ereignisse festsetzt, ist immer kleiner und ärmer als das Geschehene. Wie wenig wissen wir von Jesus! Er spricht nicht selber zu uns, sondern tut es durch seine Boten, und jeder Versuch, uns über die Evangelisten hinweg und um sie herum einen Weg zu Jesus zu bahnen, ist sinnlos und erfolglos. Was die geschichtliche Forschung zu den Evangelien hinzuerwerben kann, macht uns nur die Umgebung deutlich, in die die Geschichte Jesu hineingestellt war; ihn selbst zeigt uns nur das Neue Testament. Das ist aber nur ein kurzer Bericht, durch den uns nur wenige Worte Jesu erhalten sind. Manches in ihm bleibt dunkel, und an manchen Orten kann zweifelnde Unsicherheit entstehen, die sich nicht beseitigen läßt. Gibt es überhaupt ein einziges Wort Jesu, das heute einer von uns noch vollständig verstehen könnte? Das gibt es nicht, weil uns nirgends und niemals bei keinem einzigen Ereignis die vollständige Erkenntnis erreichbar ist. Das ergäbe freilich ein unüberwindliches Hindernis, wenn Jesus uns deshalb zu sich riefe, damit wir seine menschliche Geschichte studierten und genau wüßten, was er in jeden seiner Tage an Worten und Taten hineingelegt habe. Er ruft uns freilich zu sich, heißt uns ihm glauben und macht aus unserem Leben seine Nachfolge. Das tut er aber in der Kraft seiner Sendung um des Amtes willen, das Gott ihm gegeben hat. Er tut dies als Gottes Sohn und Zeuge. Das hat aus seinem Wort und Werk eine starke, deutlich erkennbare Einheit gemacht. Er spricht mit uns nicht von vielerlei Dingen, sondern hat ein einziges Ziel, das über allem steht, was er sagt und tut. Von Gott spricht er mit uns, von seinem Reich, von seiner herrlichen Gerechtigkeit, die alles richtet und ordnet, und von seiner allmächtigen Gnade, die uns nimmt, was uns verdirbt, und uns gibt, was Gottes ist. Das hat Jesus seinen Jüngern und aller Welt gezeigt, nicht sich in seiner menschlichen Art, sondern sich in seiner Sohnschaft Gottes, durch die er die königliche Sendung hat und aus uns die für Gott erworbene Gemeinde macht. Indem er das seinen Jüngern zeigte, hat er aus ihnen das Licht der Welt und das Salz der Erde gemacht, und dieses Licht leuchtet heute so hell wie damals; denn das Licht, durch das Gott sich uns offenbart, wird nicht dunkel, und dieses Salz breitet heute seine Kraft so wirksam aus wie damals; denn die Heilandskraft, die aus Gottes Gnade strömt, wird nicht dumm und stumpf. Wir haben daher alle, einerlei wann und wo wir leben, ein Ohr für ihn, so gewiß wir durch Gott zu Gott geschaffen sind, und was er uns sagt, berührt uns alle im tiefsten Anliegen unseres Lebens, so gewiß wir Gottes bedürftig und zu ihm berufen sind.

Das, was Jesus seinen Jüngern und diese der Welt gegeben haben, ist sein Wort. Steht es nun anders mit ihm als mit jedermann? Was kann ein Mensch den anderen hinterlassen, wenn er abberufen wird? Nichts bleibt von ihm zurück als seine Gedanken. Das ist das Einzige, was wir von denen empfangen können, die vor uns gelebt haben. Auch wenn ihre Taten uns zum Vorbild dienen, üben sie ihren Einfluß auf uns durch die Gedanken aus, die in ihrem Handeln sichtbar sind. Die Meinung ist darum weit verbreitet, die Lehre Jesu sei das, was er der Welt hinterlassen habe. Daraus entsteht aber mit Notwendigkeit die zweifelnde Frage, ob es sich auch lohne, sich mit ihm einzulassen. Sind denn Gedanken das, was uns helfen kann? Auch wenn sie noch so hell und für ihre Zeit neu gewesen sind, empfangen sie ihre Kraft nicht durch den, der sie zuerst gedacht und verkündigt hat, sondern leben weiter, abgelöst von dem, der sie einst ausgesprochen hat. Nun kann das, was ihnen Kraft verleiht und Wirksamkeit gibt, nur unser eigenes Wollen und Handeln sein. Dieser Schein liegt aber auf Jesu Wort nur dann, wenn wir nicht auf den Inhalt seiner Botschaft achten. Keiner hat das Wort so hoch geschätzt wie Jesus. Sein ganzes Werk in seiner weltweiten und in die Ewigkeit emporragenden Größe hat er auf das Wort gestellt. Gottes Herrschaft, sagte er, geschieht dadurch, daß der Säemann den Samen sät. Was sät er? Der Säemann sät das Wort. Denen, die es hören und bewahren, gab Jesus die Verheißung, und deshalb hinterließ er seinen Jüngern keine andere Habe als sein Wort. Das war allein ihr Arbeitsmittel, ihre Waffe, ihr Reichtum, das, womit sie die Kirche zu bauen hatten, das, was sie lebendig machen soll. Wie kam denn Jesus dazu, sein Wort so hoch zu preisen? Das ist kein Rätsel, sowie wir auf das achten, wovon er spricht. Er spricht ja von Gott, nicht vom abwesenden und verborgenen Gott, sondern vom königlich regierenden Gott, von seiner allmächtigen Gnade, die alles neu macht. Damit hat er zur unauflöslichen Einheit verbunden, was in uns auseinander klafft. Was wir sagen und was wir tun, was wir denken und was geschieht und „Wirklichkeit erlangt, das ist bei uns durch eine tiefe Kluft geschieden. Aber nur unser menschliches Leben ist durch diesen Riß zerspalten, nicht auch Gottes Wort. Bei Gott ist Wort und Kraft eins. Sein Wort ist selbst schon Tat; denn es geschieht. Denn sein Wort tut seinen Willen kund, und sein Wille ist eins mit der schöpferischen Macht und vollbringt sein Werk.

Wie kann das göttliche Wort auf Erden hörbar werden? Gottes Wort entspringt nicht in dem, der es uns sagt. Es entsteht nicht als die Erfindung oder Entdeckung des menschlichen Denkvermögens. Es ist Gabe und wird von dem, der es zu sagen vermag, empfangen und vernommen. Deshalb bleibt es auch in dem, der es sagen darf, Gottes Eigentum, eins mit seinem Willen und gefüllt mit seiner Kraft.

In herrlicher Deutlichkeit haben uns das die Jünger an dem sichtbar gemacht, was sie uns von Jesus berichteten. Was gab er denen, die von ihm die Hilfe erbaten? Sie begehrten von ihm Unmögliches, was jenseits des menschlichen Vermögens lag, weil es das überragt, was uns die Natur bereitet. Dennoch baten sie: „Sprich nur ein Wort“, und er gab ihnen sein Wort, nichts anderes als sein Wort: „Ich will es, sei rein“, nichts anderes als seine Zusage: „Deine Sünden sind dir vergeben.„ Er gab ihnen aber sein Wort in der Gewißheit, daß das, was er auf Erden löste, im Himmel gelöst sei, mochten es Bande sein, die die Seele bedrückten, oder solche, die den Leib fesselten. Denn sein Wort war das, was ihm der Vater gab, aus Gottes Willen geboren, aus dem Schatz der göttlichen Gnade geschöpft und darum schaffende Macht. Ganz ebenso verhielt er sich dann, wenn er seinen Jüngern die Gerechtigkeit des Himmelreichs zeigte. „Ich sage euch“, sprach er, und wieder überwand sein Wort alles, was uns die Natur darreicht. Denn die Natur bereitet uns den eigensüchtigen Willen, den zänkischen, der zürnen und schelten kann, den lügenhaften, der sogar Gottes Namen zum Schutz unserer Verstellung mißbraucht, den begehrlichen, der uns mit Wünschen und Sorgen anfüllt und uns zu Knechten des Mammons macht, weil wir uns von der Frage nicht befreien können, was wir essen und anziehen werden, den weichlichen, der das Leiden fürchtet und vor dem Tod erschrickt und uns deshalb der Gewalt der Menschen unterwirft. Trotz alledem bleibt es dabei: „Ich sage euch.„ Warum reicht dies aus? Weil sein Wort mit Gottes schaffender Gnade verbunden ist. Jesus redet nicht von der Gerechtigkeit, beschreibt sie nicht nur und gebietet sie nicht nur, sondern bringt sie in uns hervor. Denn sein Wort hat das Vermögen, ins Herz hineinzugehen, und macht sich zu unserem Eigentum, weil es stark genug ist, daß es in uns den Glauben schafft.

Wenn wir darum in aller Deutlichkeit die Erfahrung machen, daß unsere Gedanken verwelken und unser Reden und Lehren ohne Wirkung bleibt, so gibt uns dies keinen Anlaß, Jesus neben uns zu stellen, als wäre auch er nur einer der Denker und Lehrer, deren Worte und Bücher sie für einige Zeit überleben, doch so, daß nichts anderes als Worte und Bücher von ihnen übrig sind. Vielmehr ruft er uns eben deshalb zu sich, weil unsere Gedanken nichtig sind und unsere Worte ohne Wirkung bleiben, damit er uns das Wort sage, das da war und ist und sein wird, Gottes Wort.

„Worte des ewigen Lebens“ sagtest du uns, sagten die Jünger und deshalb blieben sie, auch als er zum Kreuz ging, bei ihm. Worte des Lebens sind seine Worte; denn er hat sie nicht nur gesagt und gedacht, sondern gelebt. Er sagt sie uns in Kraft des Lebens, das in ihm war, weil er in Gottes Gemeinschaft lebte. Er ergreift uns mit einem unbedingten Anspruch, der uns ganz und gar mit allem, was wir sind und tun, für ihn begehrt und uns ihm untertänig macht. Er sprengt jede andere Gemeinschaft, damit wir ganz ihm gehören, und richtet jede Zwiespältigkeit des Begehrens, die uns schwankend macht. Keinen Vorbehalt läßt er zu, kein Zaudern. Den Glauben, der sich an ihn hält, macht er zur unbedingten Hingabe und den Gehorsam, den er von uns verlangt, zur völligen Einigung mit seinem Willen. Das sagt er aber nicht nur uns, sagt es auch nicht bloß sich selbst, als wäre das für uns oder ihn ein entlegenes Ziel und erhabenes Ideal. So war er; das war sein Leben. Er war wirklich Gott gehorsam, ohne Vorbehalt und ganz, und hat, als er das Kreuz anfaßte, zu sagen vermocht: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst„, und er hat wirklich und völlig auf Gott getraut und seinen Geist in Gottes Hand gelegt in der Stunde der Gottverlassenheit. Darum sind seine Worte Worte des Lebens, Worte des Lebendigen, der Leben hat und schafft. Sie rufen uns nicht bloß zu einem Denker und Lehrer, als müßten wir nun seine Worte selbst mit eigener Anstrengung und emsiger Arbeitsamkeit verwirklichen, sondern sie führen uns zum Lebendigen, der durch sein Wort selbst sein gutes Werk in uns beginnt und vollbringt.

Von uns anderen hat freilich jeder nur eine begrenzte Wirksamkeit. Ihr widerstehen Hemmungen, die sie schwächen, so daß sie mit dem Fortgang der Zeit immer schwächer wird, wie die Ringe, die der ins Wasser geworfene Stein hervorbringt, immer schwächer werden, je weiter sie sich dehnen, bis schließlich die Bewegung des Wassers wieder ganz zur Ruhe kommt. Denn von uns hat jeder nur einen begrenzten Beruf und ist als „einer von vielen“ in die Gemeinschaft hineingestellt, auch dann, wenn ihn Gottes reiche Gnade für viele zum Führer und Helfer und Segen macht. Stände es auch mit Jesus so, dann müßten wir freilich für Jesus Nachfolger suchen und zwischen ihn und uns Mittelsmänner hineinschieben, damit seine Wirksamkeit auch uns erreiche; und je länger diese Kette würde, um so schwächer würde seine Wirkung werden, und die Erwartung wäre unvermeidlich, daß sie schließlich einmal vollständig ende. Solche Gedanken widersprechen aber dem Wort, das Jesus seinen Jüngern sagte, und widersetzen sich der Weise, wie er heute sein Wort in unsere Seele legt1). Jesus hat sein Werk als unvergänglich gepriesen und den Seinen mit strahlender Zuversicht verheißen, er sei überall und immer bei ihnen, auch dann, wenn nur zwei oder drei durch seinen Namen verbunden seien. Wir wenden uns, wenn wir uns zu Jesus kehren, zu dem, der bei uns gegenwärtig ist, und kommen zu dem, der nicht nur spricht, sondern schafft, und dieses sein Wirken ist so unvergänglich wie Gottes Wille, wie Gottes Gnade, wie Gottes Reich.

Aus dem Christus, der einst bei uns war, ist der geworden, der ewig bei uns ist. Versinkt damit für uns sein irdischer Dienst? Verdunkelt der Glanz seiner gottheitlichen Gegenwart die Erinnerungen, durch die wir einen Zugang zu seinem Leben auf Erden haben? Das kann niemals geschehen; denn in seiner gottheitlichen Gegenwart ist er für uns unsichtbar. Wollten wir vergessen, was er damals war, als er unser Bild trug und sich durch die Natur die Gemeinschaft mit uns Menschen gab, so verschwände er uns ganz und gar, und sein Name würde zum leeren Schall. Auch wenn das, was Paulus mit dem Wort „im Christus sein“ uns sagt, für uns die allergewisseste Gewißheit und allerwirksamste Wirklichkeit geworden ist, bleibt es felsenfeste Wahrheit: seine Gegenwart wird uns nicht sichtbar, und die Weise, wie er uns berührt, liegt völlig hinter und über unserem Bewußtsein. Geist ist das, wodurch sein Wirken in uns geschieht, und den Geist beschauen wir nicht mit unseren Augen. Schöpferisches Wirken geschieht durch ihn, und zum göttlichen Schaffen wird kein Beobachter zugelassen. Wir vernehmen die Gegenwart Jesu nur dadurch, daß die Erinnerungen an ihn in uns erwachen und zur Wurzel unseres Denkens und Wollens werden, weil uns durch sie Gott offenbar und sein gnädiger Wille glaubhaft wird. Der Blick nach oben, der uns zum Spiegel für die Herrlichkeit des Erhöhten macht, ist darum immer unlöslich mit dem Blick nach rückwärts geeint, der Jesus an seinem Kreuz aufsucht und dort an ihm die Herrlichkeit Gottes schaut.

Es gibt unter den Theologen auch solche, die meinen, daß die Apostel anders dachten, weil sowohl Johannes als Paulus der Christenheit sagen, daß sie ihren Glauben nicht auf das Fleisch Jesu richten dürfe, Johannes 6, 63; 2. Korinther 5,16. Johannes erzählt, wie Jesus den Galiläern seinen Gang in den Tod gedeutet hat. Er pries sein Fleisch und sein Blut, mit denen er seinen Gottesdienst, den vollendeten Gehorsam, vollbringt, aus denen er das heilige Opfer macht, das Lösegeld, das den vielen die Freiheit erwirbt. Darum nannte er sein Fleisch das lebendige Brot und sein Blut den wahrhaften Trank und verhieß denen, die sein Fleisch essen und sein Blut trinken, das ewige Leben. Gläubiger als Johannes kann man nicht von dem sprechen, was Jesus mit seinem Leibe tat, und kann sich nicht mit stärkerem Verlangen nach dem strecken, was er mit seinem Blut der Welt erworben hat. Dachte er dabei nur an den Muskel, den die Lanze des Soldaten zerschnitt, und an die Blutstropfen, die die Dornenkrone aus der Stirne Jesu rinnen ließ? Wer nur das vor Augen hat und die Kraft des ewigen Lebens in dem sucht, was die Natur Jesus gab, ist der Gefangene eines blinden Wahns, der Gott vergißt. „Der Geist„, fährt Johannes fort, „ist das, was lebendig macht; das Fleisch“, auch das ans Kreuz genagelte Fleisch Jesu und das am Kreuz verschüttete Blut Jesu „nützt nichts„. Versinkt nun für den Apostel und für uns der Gekreuzigte? Sind wir dadurch von ihm weggezogen, etwa auf das verwiesen, was uns in unserem eigenen Erleben als Wirkung des Geistes zuteil wird? Im Gegenteil, wenn wir bei Jesus nichts anderes finden als „Fleisch“, nichts anderes, als was die Natur uns Menschen gibt, dann versinkt er für immer in der Vergangenheit. Weil aber Jesus das, was er im Leibe tat, nach dem Willen des Geistes und in der Kraft des Geistes vollbrachte, darum ist seine Geschichte unvergänglich, unvergeßlich, — der Ort, an dem das ewige Leben entstand. Es ist kein redlicher Gebrauch der apostolischen Worte, wenn wir sie dazu benützen, um uns von Jesus loszumachen. Das lag nicht im Sinn der Apostel. Sie haben uns die Geschichte Jesu dazu erzählt, damit wir in ihr das gnädige Wirken Gottes schauen, und dieses wird dort deshalb sichtbar, weil dort nicht nur das natürliche Begehren und menschliche Vermögen am Werke sind, sondern im menschlichen und natürlichen Vorgang der Geist den gnädigen Willen Gottes vollbringt.

Einen ähnlichen Gedanken hat Paulus ausgesprochen, als er die Liebe Jesu pries, die ihn deshalb allgewaltig erfaßte und regierte, weil er, der Eine, für alle starb und dadurch alle mit sich selbst ins Sterben hineinversetzt hat. Weil uns Gott durch den, der auferstanden ist, seine Gaben darbietet, sind wir „eine neue Schöpfung„, nicht mehr bloß das, was die erste Schöpfung aus uns machte, nicht mehr das, was schon die Natur uns gewährt. Nach dieser Erkenntnis ordnete Paulus seinen ganzen Verkehr mit allen Menschen, mit den Juden, Griechen und Christen. Nun „kennt er niemand nach der Art des Fleisches“, niemand so, wie wir durch die natürlichen Mittel einander kennen, niemand so, daß schon „sein Gesicht„ ihn mit dem Apostel verbände oder von ihm schiede, niemand so, daß seine Liebe nicht mehr

wäre als eine aus dem Fleisch hervorsprudelnde Begehrlichkeit. Wie frei er von all dem ist, was durch „das Fleisch“ zu unserer Eigenschaft und unserem Besitztum wird, bezeugt er uns dadurch, daß er sogar von Jesus sagt: er habe ihn zwar einst so gekannt, wie wir auf dem natürlichen Weg einander kennen, damals nämlich, als Paulus in Jerusalem lebte und Jesus gleichzeitig sein Werk in Jerusalem tat; „jetzt aber„, sagte er, „kennen wir ihn nicht mehr“ mit den natürlichen Mitteln und nach seiner irdischen Gestalt, 2. Korinther 5, 16. Warum sagt Paulus, daß der natürliche Anblick Jesu für ihn die Bedeutung verloren habe? Sagt er es deshalb, weil er sich von Jesus abwendet, sein Leben und Sterben vergißt und sein Wort mißachtet? Diese Deutung zerreißt alles, was Paulus heilig war. Eben jetzt, da er alles Natürliche hinter sich ließ und alles, was uns das Fleisch gewährt, für wertlos achtete, versenkte er sich in die Liebe Jesu als in die allein ihn regierende Macht. Wo sah er denn die Liebe Jesu? Sie erstrahlte in ihrer unvergänglichen Herrlichkeit damals, als der Eine für alle starb, damit sielür ihn, den Auf erweckten, leben. Sein Tod ist aber die Tat dessen, der auf unserer Erde stand und unsere natürliche Art an sich trug. Dieses unser Fleisch gab Jesus in den Tod. Nun erreichen ihn unsere natürlichen Erkenntnismittel nicht mehr. Denn nun ist er als der Auferweckte und Erhöhte der Träger der göttlichen Gnade, der uns in gottheitlicher Gegenwart mit sich vereint. Wie könnte nun seine Geschichte in Vergessenheit versinken und für uns wertlos werden? Ihre zur Ewigkeit vollendete Frucht macht offenbar, daß das, was hier auf der Erde und in der Zeit geschah, Gottes Werk und Offenbarung war.

1)
Vgl. Schlauer, Das „Werden der Kirche in der Urchristenheit. 1927. Freizeiten-Verlag, Abschnitt 3: Das Amt in der Kirche. S. 27 ff.